– Bully Buhlan (Text: Aldo von Pinelli) Ich hab noch einen Koffer in Berlin Ich hab' noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin. Die Seligkeiten vergang'ner Zeiten sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin. Ich hab' noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn: Auf diese Weise lohnt sich die Reise, denn wenn ich Sehnsucht hab', dann fahr ich wieder hin. Wunderschön ist's in Paris auf der Rue Madelaine. Schön ist es im Mai in Rom durch die Stadt zu geh'n. Oder eine Sommernacht still beim Wein in Wien. Doch ich häng, wenn ihr auch lacht, heut' noch an Berlin. Lunapark, Wellenbad, kleiner Bär im Zoo, Wannseebad mit Wasserrad, Tage, hell und froh, Werder, wenn die Bäume blüh'n, Park von Sanssouci, Kinder, schön war doch Berlin, ich vergeß' es nie. denn wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin. [Bully Buhlan: Lieber Leierkastenmann. Polydor 1951. ] Jüngere Menschen werden staunen: Es gab tatsächlich Zeiten, in denen Berlin deutsche Schlagzeilen nicht als chronische Pleiten- und Pannenstadt beherrschte, sondern sich als sog.
Jawohl, der Berliner hat Dinge zu stehen - oder zu liegen. "Irgendwo muss hier doch noch mein Schlüssel liegen" heißt auf Berlinisch: "Ick hatte hier doch noch 'n Schlüssel zu liejen jehabt! " Der Autohändler hat hinten im Hof einen nagelneuen BMW zu stehen, und der Zahnarzt hat im Wartezimmer illustrierte Magazine zu liegen. Geschäftsleute und Sachbearbeiter aus anderen Teilen der Republik werden regelmäßig verunsichert, wenn ihnen ein Berliner Kollege erklärt, er habe die Unterlagen "vorzuliegen". Das klingt fast wie ein Imperativ: "Die Akte habe ich meinem Chef morgen früh vorzulegen, sonst fliege ich raus! " Gemeint ist aber nichts anderes, als dass der Kollege die Papiere vor sich auf dem Tisch liegen hat. Nach dieser Logik hätte Marlene Dietrichs berühmte Liebeserklärung an Berlin eigentlich anders lauten müssen, und zwar ungefähr so: "Ich hab noch einen Koffer in Berlin - zu stehen. Deswegen hab ich nächstens wieder hin - zu gehen. Die Seligkeiten vergangner Zeiten Sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin - zu sehen. "
Scherzhaft wird diese Konstruktion auch die "Berlinische Verlaufsform" genannt, obwohl dabei nicht viel verläuft, es sei denn, man stößt aus Versehen einen alten Eimer mit Farbe um, den man noch irgendwo zu stehen hatte. Ansonsten wird eher gestanden und gelegen, gelegentlich auch gehangen: "Mein Opa hatte in seiner Stube ein Bild vom Kaiser zu hängen. " Dieses ausgefallene sprachliche Prinzip kommt allerdings nur bei Gegenständen zur Anwendung. Personen sind im Stehen oder im Liegen nicht mit "zu" zu haben. "Da hinten steht mein Mann" wird nicht etwa zu "Ich hab da hinten meinen Mann zu stehen", das wäre nämlich nicht nur umständlicher, sondern auch noch missverständlich. Man kann zwar auch in Berlin gepflegt einen sitzen haben, aber man hat niemanden zu sitzen, und man hat auch niemanden zu liegen. Folglich muss kein Mann befürchten, jemals von seiner Frau die folgenden Worte zu hören: "Schatz, du kannst da jetzt nicht rein, ich hab da noch den Klempner zu liegen. " Das wäre nämlich selbst für einen Berliner ein ziemlicher Klops.
Millionen Menschen transportierten damals in schäbigen Köfferchen ihre verbliebene Habe durch die Welt, um – vielleicht – irgendwo eine Bleibe, eine neue Heimat zu finden. Insofern symbolisiert der Koffer in dieser Zeit wie kein anderer Gegenstand die defiziente Existenz der durch Faschismus, Holocaust, Krieg und Vertreibung entwurzelten Menschen. Buhlans chansonartiger Schlager schreibt dem Koffer nun jedoch eine neue, positive Bedeutung zu, denn der von ihm besungene Koffer befindet sich nicht bei seinem Besitzer, der anscheinend – zeituntypisch privilegiert! –, weltläufig' (Paris, Rom, Wien) und selbstbestimmt unterwegs ist, sondern er liegt als eine Art, Brückenkopf' oder, Rückversicherung' an einem Ort, den das Ich (ohne das Wort zu verwenden) als, Heimat' betrachtet. Die fünfziger Jahre waren bekanntlich geradezu, heimatsüchtig'. Angesichts zahlloser Heimatfilme und Heimatschlager, des Erfolgs von Trachtenmode und Regionalparteien spricht die Forschung zur Popularkultur jener Zeit von einer, Heimatwelle'.
Bemerkenswert ist schließlich noch der Tempus-Wechsel vom dritten zum vierten Versblock; den Metropolen Paris, Rom und Wien wird Lebensqualität im Präsens zugestanden, Berlin aber "war" schön. Die Degradierung Berlins wird also wahrgenommen. Dennoch gesteht das Ich seine (irrationale – "wenn ihr auch lacht") tiefe Verbundenheit gerade zu dieser zerstörten, aktuell nicht mehr schönen Stadt. Explizit angesprochen wird mit "Kinder" (Vers 16) nicht unbedingt eine jüngere Generation, aber doch wohl ein Publikum, das als westdeutsches, nicht heimatvertriebenes oder wenigstens auf die Zukunft hin orientiertes die Sentimentalität der Ich-Instanz nicht unmittelbar teilt. In der Realität hat Bully Buhlan selbstverständlich den Nerv der deutschen Nachkriegsgesellschaft getroffen. Dass sein Bekenntnis zu Berlin faktisch auf Verständnislosigkeit stoßen könnte, war nicht zu befürchten. Buhlans sentimentale Berlin-Huldigung wurde später von einigen Film- und Unterhaltungsstars gecovert, deren Leben und Schaffen ebenfalls intensiv mit der geteilten Metropole verbunden war.