"Der Junge im gestreiften Pyjama" ist ein Holocaust-Film. Eine ganze Reihe Zuschauer wird hierzulande allein das schon gelangweilt abwinken lassen, denn die (zu begrüßende) komplette Aufarbeitung des Holocaust in der deutschen Erziehung, Wissenschaft und Gesellschaft plus einhergehender Masse an Filmen zu diesem Thema provoziert bei vielen inzwischen eine verständliche "Nicht schon wieder…"-Reaktion. In der Tat ist es schwer, diesem Thema erzählerisch noch frische Facetten abzugewinnen. Einer, der er es ziemlich erfolgreich versuchte, war der Romanautor John Boyne, der die unbegreifliche Erfahrung des Holocaust aus der Perspektive eines achtjährigen deutschen Jungen schilderte. Dasselbe versucht nun auch die Filmadaption seines Buchs zu tun, allerdings mit definitiv ambivalentem Ergebnis. Denn gut 90 Minuten steht sich "Der Junge im gestreiften Pyjama" mit seinen erzählerischen Konstruktionen und Vereinfachungen selbst im Weg, so dass man den Film kaum für voll nehmen kann, um dann wiederum in einem Finale zu gipfeln, das derart gnadenlos und brutal auch und vor allem gegenüber dem Zuschauer ist, dass man sich hier fast im falschen Film wähnt.
Als Schmuels Vater verschwindet, hat der Junge keine Ahnung, wo er ihn suchen könnte. Dass er in der Gaskammer umgekommen ist, wissen nur die erwachsenen Zuschauer, explizit aufgeklärt werden diese Fragen im Film nicht. Und so betrachten wir, ähnlich staunend und ratlos wie Bruno, die Geschichte dieser Welt. Dass Bruno ein Gefangener seiner Zeit ist, der mit Lügen und Geheimnissen abgespeist wird, vermittelt sich durch Bilder, die ihn hinter den Lamellen einer Jalousie oder einem Treppengeländer als Eingeschlossenen zeigen. Den Blick in die Ferne gerichtet, die er genauso wenig erreichen kann wie sein kleiner Freund. Dass es diesem jedoch viel schlechter geht als ihm selbst, erkennt er sofort, und schließlich will er ihm helfen, seinen verschwundenen Vater wiederzufinden. Ein verhängnisvoller Entschluss, der uns die Naivität Brunos ein weiteres Mal vor Augen führt. Der Terror ist ständig spürbar, aber für das Kind nicht zu fassen, und so entlässt uns der Film verstört aus dem Kino.
Bruno hält die Gebäude für einen Bauernhof und fragt immer wieder, warum er denn nicht mit den Menschen und den Kindern auf der anderen Seite des Zauns spielen dürfe. Trotz eines Hauslehrers und einer Schaukel die ihm von einem im Arbeitsdienst befindlichen Juden gebaut wurde, langweilt Bruno sich sehr. So beginnt er zu "forschen" und erkundet die Gegend rund um das Wohnhaus und findet einen Weg zum Zaun des Konzentrationslagers, welches er immer noch für einen Bauernhof hält. Er wandert den Zaun entlang bis er auf einen Jungen trifft. Shmuel, der Junge hinter dem Zaun ist Jude und wird in dem Konzentrationslager Auschwitz festgehalten. Fast jeden Tag flüchtet er sich zum Ende des Zauns hinter einem Berg von Schutt um der schweren Arbeit zu entgehen. Bruno weiß nichts über das Schicksal von Shmuel und hält das Lager weiterhin für einen Bauernhof. Die zwei 8-jährigen Jungen freunden sich mit der Zeit an und treffen sich täglich am Zaun des Konzentrationslagers. Da niemand von der Freundschaft wissen darf, geschieht dies heimlich.
Es mag un- glaublich wirken, dass ein 8-jähriger Junge, der mitten in Berlin aufgewachsen ist und zur Schule geht, also lesen und schreiben kann, und sonst nicht auf den Kopf gefallen zu sein scheint, nichts von Hitler, Krieg und Judenverfolgung weiß. 1 Die Frage ist, ob es wirklich Unwissenheit des kleinen Jungen über die Realität des wirklichen Lebens in dieser Zeit war oder ob er versucht hat, die Augen vor der schrecklichen Wahrheit, mit der sein Vater tagtäglich zu tun hatte, ver- schließt. 2 Im Gegensatz dazu fügte sich Gretel, Brunos drei Jahre ältere Schwester komplett in das gern gesehene Mädchenbild der damaligen Zeit ein. Motiviert durch den Soldaten Kurt Kotler, in den sie heimlich verliebt war, und den neuen Hauslehrer, der Bruno und Gretel nationalsozialistische Literatur lesen ließ, warf sie alle ihre Puppen in den Keller und veränderte ihr gesamtes Zimmer dahingehend. So fand Gretel den Weg in das in der Öffentlichkeit dargestellte Bild der deutschen Mädchen, welche die Soldaten an der Front verehrten und zu starken und tapferen Frauen werden sollten.
Es erinnert ihn nichts mehr an Cafés oder Spielplätze, die er in einem Propaganda Film seines Vaters gesehen hatte. Während die beiden Jungen sich in einer Baracke befinden um den verschollenen Vater zu suchen werden alle in diesem auf engstem Raum lebenden Männer von Soldaten aufgefordert herauszutreten. Sie sollen auf die andere Seite des Lagers marschieren, um sich in einem kahlen Raum zu entkleiden. Bruno und Shmuel gehen davon aus, dass sie gemeinsam mit den anderen Männern duschen werden. Doch nachdem die Tür hinter ihnen geschlossen wird, öffnet sich eine Luke an der Decke des Raumes, durch die ein Soldat das Vernichtungsmittel Zyklon B in den Raum streut. Nach einer Weile der Ungewissheit und Ratlosigkeit wird es leise und immer ruhiger im Inneren des Raumes und so werden Bruno und Shmuel mitsamt den anderen männlichen Häftlingen durch die Soldaten seines eigenen Vaters vergast. Der Film zeigt, dass gerade Kinder in Brunos Alter nichts von dem Terror und dem Schrecken, welches in jedem Arbeits- und Konzentrationslager stattgefun- den hat, wussten: sogar die Existenz dieser war ihnen nicht bekannt.
Die letzten Minuten sind jedoch so grausam, dass man sie nicht einmal einem 14-jährigen zeigen sollte. Und wenn man sich dann aus der Schockstarre des Finales gelöst hat, drängt sich dann eben doch - trotz Holocaust-Thematik - die gnadenlose Frage auf: Wen soll dieser Film noch interessieren?