Nach und nach füllt sich der Raum, unbemerkt auch mit einem Teil des Ensembles selbst, wie sich später herausstellen wird. (Bühne und Kostüme Christoph Gehre) "Mario und der Zauberer" steht derzeit am Spielplan der Grazer Oper. Ein Werk, für das der englische Komponist Stephen Oliver 1988 nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto schuf. Grundlage dafür bot ihm die gleichnamige Novelle von Thomas Mann, die dieser in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts verfasste. Darin geht es um die Begebenheit rund um den Auftritt eines Magiers in einem italienischen Urlaubsstädtchen. In diesem herrscht ein nationalistischer Geist, der Fremde kategorisch mobbt und ausschließt. Cipolla – der Zauberer, der in das Städtchen kommt – schafft es bei seinem Auftritt, das Publikum so zu beeinflussen, dass einige Menschen unter Trance Dinge tun, die ihnen im Wachzustand eigentlich peinlich sind. Ein junger Mann streckt coram publico die Zunge heraus, ein anderer bildet sich ein, in Cipolla seine große Liebe, Silvestra, zu erkennen und versucht verblendet, den Zauberer zu küssen.
Mario Lerchenberger studiert Gesang an der KUG bei Tom Sol. Als Sänger und Dirigent trat er im In- und Ausland auf. Nach Auftritten in "Il combattimento di Tancredi e Clorinda" und "Mario und der Zauberer" kam er 2019/20 ins Opernstudio der Oper Graz, an der er u. a. Basilio ("Le noze di Figaro"), Man/Orpheus ("Der Korridor") und Alfred ("Die Fledermaus") gesungen hat. Seit der Spielzeit 2021/22 gehört er dem Ensemble der Oper Graz an, an der er als Steuermann ("Der fliegende Holländer"), Loge ("Der Ring an einem Abend"), Trabucco ("Die Macht des Schicksals"), Leutnant Brannigan ("Guys and Dolls"), Fedja ("Anatevka") und im Konzert "Die Goldenen Zwanziger" zu sehen ist. Bildergalerie
In einem kleinen italienischen Badeort löst ein 9-jähriges Mädchen, das ihren Badeanzug auszieht, um den sie störenden Sand auszuwaschen, die Beschwerde eines moralbesessenen Bürgers und eine Anklage beim Podesta aus. Die Mutter wird zu einer Geldstrafe verdonnert, während sich der Kellner Mario um die Kleine kümmert und Signora Angiolieri, die Pensions-Vermieterin, von ihren Zeiten als Garderobiere bei Eleonora Duse schwärmt. Eine abendliche Darbietung des Zauberers Cipolla führt alle Personen wieder zusammen. Cipolla verrät deren diverse Vorlieben und kleine Geheimnisse unter Einsatz von Hypnose lässt er die Anwesenden fragwürdige Darbietungen zum Besten geben –Zunge-Blecken, Baby-Manieren, und Zappel-Tänze der Betroffenen. Die Zauberkunststücke gipfeln in einer Darbietung, bei der Cipolla sich dem Mario als dessen weibliches Liebesobjekt präsentiert. Nach dem Kuss erwacht Mario aus der Hypnose, greift zur Waffe und erschießt den Zauberer. Der 1950 in Chester geborene britische Opern-, Kantaten- und Musicalkomponist Stephen Oliver hat Manns Geschichte auf ein eigenes Libretto komponiert.
Die bei Thomas Mann bereits anklingende Homoerotik der Schlussszene mit einem schmatzenden ("schallenden") Kuss zwischen Zauberer und Mario (Jakob Becker) wird hier breit ausgespielt und vervielfacht: denn nach den tödlichen Schüssen des Kellners auf den Zauberer spult die Zeit und Handlung zurück, und es kommt wiederholte Male erneut zur Liebesszene zwischen den Männern. Bei den Schussmomenten ergreifen auch Mutter und Guiscardo die Pistole und schießen um sich – so dass am Ende kein Lebender mehr übrig ist. So löst sich die Widmung der Partitur des Komponisten, der 1992 an AIDS starb, – auch in der Berliner Inszenierung optisch ein: "Unseren Toten, denen Zukunft erspart geblieben ist". Gestopfte Trompeten, Soli von Klarinette und kleiner Flöte sowie Passagen des Xylophons bleiben im Gedächtnis, wohl abgestimmt intoniert auf der Empore, rechts neben der Zuschauertribüne, von Mitgliedern der Staatskapelle Berlin unter der musikalischen Leitung von Felix Krieger. Und durchwegs textverständliches Singen ganz ohne Übertitelung.
(…) Es ist ein zutiefst negatives Menschenbild, das in diesem Werk aufgezeigt wird. Nicht nur, dass Recht und Ordnung vor Menschlichkeit stehen. Auch die vermittelte Erkenntnis, dass jeder und jede von uns verführbar sind, wird er oder sie nur geschickt manipuliert, wirft eine dunkle Schattenseite auf unsere Gesellschaft. (…) In einer höchst gelungenen Besetzung stehen Sonja Saric als Signora Angiolieri und Andrea Purtic als Mutter Seite an Seite den politisch verblendeten Männern gegenüber. Valentino Blasina sprüht nur so vor Fremdenhass und stachelt den Bürgermeister, Mario Lerchenberger, mit seinen rhetorischen Giftspeilen zu einem unbotmäßigen Richterspruch auf. All diese Partien sind stimmlich perfekt ausgestattet und auch Mario, gesungen und gespielt von Romain Clavareau, fügt sich bestens in das Ensemble ein. Mit MArkus Butter wurde ein Cipolla besetzt, der ein Idealbild des alten Zauberers abgibt. Groß und breitschultrig, versteckt unter einer technisch perfekten Maske, die unglaublich abstoßend wirkt, durchbohrt er mit seinem scharfen Blick so manch eine Person aus dem Publikum.
Das die Handlung auslösende Auskleiden des jungen Mädchens (Paula Aschmann) wird als gesprochene Erzählung der Mutter (Lena Haselmann) nachgeschoben. Zum Gesangserlebnis gestaltet Elsa Dreisig die Erinnerungen der Signora Angiolieri an ihr Idol Eleonora Duse. Der von Vinzenz Weissenburger einstudierte Jugendchor der Staatsoper unter den Linden füllt als transvestitenreich kostümierte Demimonde-Gesellschaft der Roaring Twenties bereits pantomimisch das Zwischenspiel vor dem Vorhang. Dann endlich präsentiert sich die Bühne in eindrucksvollem Ambiente: eine kleine, hochgebockte Varietébühne mit hohen Seitenwänden, darauf rosafarbene Publikumstische mit gemalten und partiell plastisch applizierten Gästen; durch ovale und runde Öffnungen strecken die jungen Choristen ihre Köpfe und teils auch Arme oder Beine. Mit klassischer Zauberergestik gestaltet David Oštrek, differenziert in der Stimmgebung, wortreich den schwarzen Cipolla, durch dessen Magie sich die Gesichter des Publikums auf der Bühne in schaukelnde Schweineköpfe verwandeln.
Dreimal fällt in Amos' Inszenierung am Ende der Schuss. Wie im Film wird die Handlung zurückgespult und eine neue Variante gespielt. Wer den Zauberer ermordet, ist der eigenen Sichtweise überlassen. Die Nachwuchssänger bilden ein formidables Ensemble, das von Elsa Dreisig vom Opernstudio vokal überstrahlt wird. Jakob Becker aus dem Jugendchor gibt einen rührenden Mario, seine Mitstreiter bewältigen die chorischen Einwürfe bemerkenswert souverän. Auf der Seitenempore dirigiert Felix Krieger die Mitglieder der Staatskapelle. Unter seiner Leitung spielen sie Olivers erregt pulsierende, wie unter Dauerspannung stehende Partitur pointiert und klar strukturiert. Herzlicher Beifall vom Publikum für eine Aufführung, die für Erwachsene wie Jugendliche gleichermaßen anregend ist. Karin Coper
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